Hilma af Klint

Hilma af Klint in ihrem Atelier, 1895
Courtesy The Hilma af Klingt Foundation / Foto: Moderna Museet, Stockholm
1862 – 1944 / schwedische Malerin
„Mir wurde gesagt, ich sei ein Pionier, aber habe mich einer unverständlichen Arbeitsweise verschrieben.“
Hilma af Klint

1906 erschuf die schwedische Malerin Hilma af Klint in ihrem Stockholmer Atelier ihr erstes abstraktes Gemälde – fünf Jahre vor dem über Jahrzehnte als Pionier der Abstraktion gefeierten Kandinsky. Und dieses Bild ist nur der Anfang eines in seiner Konsequenz und Obsessivität atemberaubenden Werkes, das über 1300 abstrakte Gemälde umfasst, die der Nachwelt viele Jahrzehnte verborgen bleiben. Wie kann es sein, dass eine Frau Anfang des 20. Jahrhunderts die abstrakte Malerei begründet und niemand davon Notiz nimmt?

Hilma af Klint, Die Taube, no 1, 1915
Courtesy Moderna Museet Malmö/ Foto: KOBERSTEIN FILM

Offene Akademien für schwedische Künstlerinnen

Zu Lebzeiten ist die Schwedin Hilma af Klint keine Unbekannte und schätzt sich glücklich, als Frau im 19. Jahrhundert ihr außergewöhnliches Talent frei ausleben zu können – im Gegensatz zu vielen ihrer Zeitgenossinnen in anderen Ländern. Denn Schweden ließ lange vor Italien, Frankreich oder Deutschland Frauen zum Kunststudium zu, und so beginnt die Tochter einer Adelsfamilie 1882 ihr Kunststudium an der Königlichen Kunstakademie in Stockholm, wo sie nach einem erfolgreichen Abschluss Anerkennung als Landschafts- und Portraitmalerin findet. Hilma af Klint reist viel, wird in der Presse erwähnt, hält Vorträge, organisiert Séancen und Frauenbünde.

Hilma af Klint an der königlichen Akademie, 1885
Courtesy The Hilma af Klingt Foundation / Foto: Moderna Museet, Stockholm
Das Unsichtbare sichtbar machen

Als Protestantin ist sie spirituellen Denkansätzen und der Theosophie zugeneigt, welche als erste religiöse Vereinigung in Europa Frauen nicht benachteiligt – ein zentraler Umstand für das Schaffen der freigeistigen Schwedin. Ihre Beschäftigung mit unsichtbaren Kräften ist zentraler Motor ihrer Malerei und rührt nicht zuletzt aus einer Vielzahl von naturwissenschaftlichen Entdeckungen im 19. Jahrhundert, wie Infrarotlicht, Röntgenstrahlen oder elektromagnetische Felder. Die Erforschung unsichtbarer Kräfte stellte auch die Kunst vor neue Fragen: Lassen sich nur Organismen malen – oder auch Lebenskraft? Nur ein Orchester – oder auch Musik? Welche Kräfte, Strahlen oder Schwingungen gibt es zu entdecken? Künstlerische Fragestellungen, die auch Kandinsky umtreiben, der sich gleichsam wie die ihm unbekannte Zeitgenossin mit den Ideen Rudolf Steiners befasst. Den anthroposophischen Allrounder und Schlüsselfigur der Esoterik, aber auch Leitfigur moderner Künstler, treffen af Klint und Kandinsky unabhängig voneinander und lassen sich, wie übrigens auch Piet Mondrian, Else Lasker-Schüler und später Joseph Beuys oder Olafur Eliasson, von seinen Ideen inspirieren. 

Die Bilder wurden direkt durch mich gemalt, ohne vorläufige Zeichnungen und mit großer Kraft. Ich hatte keine Ahnung, was die Bilder darstellen würden, und trotzdem arbeitete ich schnell und sicher, ohne einen einzigen Pinselstrich zu ändern.
Hilma af Klint
Hilma af Klint, aus der Serie „Der Schwan“, 1915
Courtesy Moderna Museet Malmö/ Foto: KOBERSTEIN FILM
Ein Werk für die Zukunft

Die unsichtbaren Kräfte in af Klints Bilderwelten bewegen sich von einer organischen hin zu einer geometrischen Abstraktion. Ihre zweite abstrakte, 1907 realisierte Serie »Die zehn Größten« realisiert sie in damals ungewöhnlichen Farben. Groß ist nicht nur die visionäre Kraft ihrer Motive, auch die Gemälde selber haben mit drei Meter Höhe monumentales Format und zeugen von dem Selbstbewusstsein Hilma af Klints sowie von der Absolutheit ihrer künstlerischen Botschaft. Eimerweise trägt die besessene Künstlerin die Farben in ihr Atelier. Ihre neuartigen abstrakten Werke zeigt sie öffentlich, reagiert aber auf negative Resonanz mit Rückzug. Bis zu ihrem Tod stellt af Klint nicht ein einziges dieser abstrakten Arbeiten mehr aus. Sie ist überzeugt, dass die Zeit noch nicht reif sei für ihr Werk. So verfügt sie 70 jährig in ihrem Testament, dass ihre theosophisch-anthroposophischen, abstrakt-symbolistischen Bilder erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden dürfen. Es folgt was die Mehrheit ihrer Zeitgenossinnen ereilt: Hilma af Klint gerät in Vergessenheit.

Sie hat wohl verstanden, dass die Menschen zu ihrer Lebenszeit nicht bereit waren für ihr Werk. Ich hab gesagt, sie hat Bilder für die Zukunft gemalt. Und die Zukunft scheint jetzt zu sein.
Iris Müller-Westermann, Direktorin Moderna Museet Malmö
Hilma af Klint, „Der Schwan, no. 17“, 1915
Courtesy Moderna Museet Malmö/ Foto: KOBERSTEIN FILM
Kein Platz mehr frei im Kunstkanon

Als im Dezember 2012 das Museum of Modern Art in New York die Ausstellung »Inventing Abstraction. 1910–1925« eröffnet, ist Hilma af Klint erneut nicht mit dabei, Kandinsky dagegen mehrfach. Obwohl der Name Hilma af Klint Experten mittlerweile nicht bekannt war, sah man keine Notwendigkeit, diese spirituelle Künstlerin in den Kanon aufzunehmen. Die Geschichte der abstrakten Kunst war längst fertig erzählt und die „Heldenrollen“ waren verteilt. Obendrein stand af Klint dem Kunstmarkt nicht zur Verfügung. Ihre Bilder werden von einer Stiftung gehütet und nicht verkauft, sie haben keinen Markt, keine Lobby, sie gehören keinem Museum. Hilma af Klint ist schlichtweg in das Marktsystem nicht integrierbar und damit auch eine Herausforderung für die Kunstgeschichtsschreibung.

Der Kanon der Abstraktion war fertig. Kandinsky, Mondrian, Malewitsch waren sozusagen die großen Leitfiguren und eigentlich sah man keine Notwendigkeit, diese Geschichte nochmal neu zu erzählen. Plötzlich kommt da Hilma af Klint wie so ein Einschlag aus dem All und würde alles, wie man es jetzt erzählt hat, zerstören.
Julia Voss, Biografin Hilma af Klint
Courtesy Moderna Museet Malmö/ Foto: KOBERSTEIN FILM
Die neue Geschichte der Abstraktion

Erst 2013, 70 Jahre nach ihrem Tod, widmet das Moderna Museet in Stockholm der Künstlerin eine erste umfassende Retrospektive »Hilma af Klint. A Pioneer of Abstraction«. Und 2018 initiiert das Guggenheim in New York eine Einzelausstellung, die mit 600.000 Besuchern zur bestbesuchtesten Ausstellung in der Geschichte des Hauses wird. Und endlich beginnt die Kunstwelt, diese außergewöhnliche Künstlerin und ihren faszinierenden Bilder- und Gedanken-Kosmos zu entdecken. Hilma af Klint fasziniert durch ihr schrankenloses Denken. Ihr überwältigendes Oeuvre fordert uns auf, die Geschichtsschreibung der Kunst zu hinterfragen.

 

https://www.hilmaafklint.se/en/the-foundation/

Hilma af Klint, um 1910
Courtesy The Hilma af Klingt Foundation / Foto: Moderna Museet, Stockholm