Hannah Ryggen
1894 – 1970 / schwedisch-norwegische Textilkünstlerin
Von einem kleinen autarken Bauernhof an der Westküste Norwegens aus, formuliert in den 1930er Jahren eine unscheinbare, doch selbstbewusste Künstlerin eine mutige politische Botschaft gegen die faschistischen und nationalistischen Machenschaften in Europa. Auf monumentalen Wandteppichen lanciert die Künstlerin Hannah Ryggen bildliche Angriffe auf Hitler, Franco und Mussolini und setzt sich damit für die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus ein. Es sind visuelle Manifeste, kompromisslos, mutig – doch lange kaum von der Kunstwelt wahrgenommen. Dabei ist ihr politisch inspiriertes Werk in Wolle von erschütternder Aktualität. Kurz vor ihrem Tod betritt die Künstlerin auf der Biennale in Venedig erstmals die internationale Bühne, ein kurzes Aufleuchten am Kunsthimmel, danach stürzt ihr Werk für 50 Jahre ins Vergessen. Doch wie gelang dieser ungewöhnlichen Frau der Weg von ihrem kargen Bauernhof ins prestigeträchtige Venedig?
Per Abendschule zur Künstlerin
Nichts, was Hannah Ryggen in ihrem Leben erreicht, ist ihr in die Wiege gelegt. In einem Arbeiterhaushalt im schwedischen Malmö geboren wird sie auf Drängen der Mutter zunächst Grundschullehrerin. Doch bald ist sie unzufrieden und nimmt privaten Abendunterricht bei dem Maler Frederik Krebs. Ryggen ist begeistert von Kandinsky, Jawlenksy und der Brücke-Künstlergruppe. 1922 reist sie nach Dresden, um in der Gemäldegalerie die alten Meister zu studieren. Hier trifft sie nicht nur auf ihren späteren Ehemann, den norwegischen Maler Hans Ryggen, sondern kommt durch den Expressionisten Otto Lange, der in Plauen Textilornamentik unterrichtet und selbst Stoffe entwirft, in Kontakt mit Textilkunst. Zurück in Schweden legt sie sich ihren ersten kleinen Webstuhl zu und bringt sich selbst das Weben bei, anfangs mit mäßiger Zufriedenheit. Es soll zehn Jahre dauern, bis Hannah Ryggen die textile Technik beherrscht und dieses Medium für ihre ganz eigene Ausdrucksform zu nutzen weiß.
Weltgeschehen in Wolle gebannt
In ihrer frühen Tapisserie »Fischen im Schuldenmeer« von 1933 thematisiert sie drastisch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Norwegen. Auch die Künstlerin ist von der Krise betroffen. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter auf einer kleinen Insel im Nordwesten Norwegens auf einem Bauernhof, ohne Strom- und Wasseranschluss, als Selbstversorger – in engem Verbund mit Natur und Tier. Die Materialien für ihre Kunst gewinnt sie direkt aus der sie umgebenden Natur und entwickelt in vielfältigen Experimenten mit Weidenrinden, Vogelkirsche oder Wacholder ganz eigene unverwechselbare Farben für ihre Textilkunst. Ein asketisches Lebensmodell in großer Abgeschiedenheit – und dennoch bleibt Hannah Ryggen dem politischen Weltgeschehen äußerst nah verbunden.
Unerschrocken gegen Mussolini, Hitler & co
Wieder und wieder bezieht sie mit ihren großformatigen Bildteppichen Stellung zum aktuellen Zeitgeschehen – und das ihr Leben lang. Unmittelbar reagierte sie 1935 auf die Invasion Mussolinis in Äthiopien mit einer hochpolitischen Tapisserie, darauf abgebildet ein Äthiopier, der einen Speer durch Mussolinis Kopf stößt – eine entschiedene Solidaritätsbekundung der Künstlerin. Auf der Weltausstellung in Paris wird der schonungslose Bildteppich zensiert gezeigt und der rechte Teil mit Mussolinis Konterfei einfach umgeschlagen. Auch die Arbeit „6.Oktober 1942“ ist hochpolitisch und erinnert an die norwegischen „Versöhnungsopfer“ während der NS-Besatzungszeit. Die verhöhnende Darstellung Adolf Hitlers, der Eichenlaub furzt, ist 1943 alles andere als ungefährlich. Doch Ryggen ist mutig und hängt während des Einmarschs der NS-Besatzer ihre kritischen Teppiche auf eine Wäscheleine neben ihrem Haus auf. Dass Hannah Ryggen selbst von Repressalien verschont blieb, mag wohl daran liegen, dass sie mit der Textilkunst ein Medium wählte, das kaum jemand ernst nahm.
Teppiche mit politischer Botschaft
In den 1930er und 40er Jahren, widmet Ryggen zahlreiche Textilarbeiten dem faschistischen Widerstand und setzt politisch Verfolgten und Ermordeten, wie Carl von Ossietzky oder Liselotte Herrmann, ein Denkmal. In bühnenhaften Kompositionen verarbeitet sie traumatische Erfahrungen als Zeugin von Folterungen durch die Nationalsozialisten mit gesellschaftlichen Zäsuren. Äußerst selbstbewusst verbindet sie collagenartig europäische Avantgarde mit norwegischer Webkunst, verknüpft Politik mit Mythologie und dem alltäglichen Leben. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg positioniert sich Ryggen bis ins hohe Alter mit ihrer Kunst zu politischen Themen wie dem Nato-Beitritt Norwegens, der atomaren Aufrüstung der Großmächte und gegen den brutalen Vietnamkrieg der USA. Auch sozialpolitische Themen verarbeitet die Künstlerin, so in ihrem Bildteppich »Unverheiratete Mutter« von 1937, wo sie eine ledige Mutter entgegen der damals etablierten Vorstellungen frei und selbstbewusst darstellt.
Künstlerisches Vermächtnis
Ryggen avanciert zu einer der wichtigsten Künstlerinnen Skandinaviens und erhält Staatsaufträge, doch bleibt ihrem einfachen Lebensstil treu. Eine dieser Auftragsarbeiten ist die große 1958 angefertigte Tapisserie »Wir leben auf einem Stern« für den Sitz des norwegischen Ministerpräsidenten. Der Teppich wird ihr künstlerisches Vermächtnis, zelebriert das Leben und die Liebe und zeigt den Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben. Am 22. Juli 2011 explodiert direkt vor dem Regierungsgebäude eine Bombe, gezündet von dem rechtsradikalen Terroristen Anders Behring Breivik. Beschädigt überlebte der Teppich diesen Anschlag auf die norwegische Demokratie und ist heute ein Mahnmal für den Frieden. Geschaffen von einer Künstlerin, die ihr Leben lang kompromisslos und selbstbewusst mit ihren antifaschistischen und pazifistischen Botschaften für Demokratie und die Prinzipien für Humanismus einstand.
Anscheinend brauchte es eine Bombe, um auf die Künstlerin aufmerksam zu machen, die daraufhin 2012 auf der documenta in Kassel ausgestellt wurde. Einzelausstellungen im Moderna Museet in Malmö 2016 und in der SCHIRN Kunsthalle Frankfurt 2019 folgten. Doch die Aufnahme Hannah Ryggens in den Kunstkanon steht noch aus.