Germaine Krull

Germaine Krull 1916
Courtesy Museum Folkwang Essen/ARTOTHEK
1897–1985 / deutsch-niederländische Fotografin
Fotografieren ist Schauenkönnen. Mit einem einzigen Klicken erfasst das Objektiv außen die Welt und innen den Fotografen.
Germaine Krull
Tanz der Metalle

1928 erscheint in Paris der schmale Fotoband „Métal“, der auf 64 Bildern eiserne Konstruktionen, Kräne, Brücken, Maschinen und den Eiffelturm, mittels ungewöhnlicher Perspektiven und Bildausschnitte in Szene rückt. Die Abfolge im Portfolio lässt aus den Einzelbildern einen geradezu filmisch-bewegten „Tanz der nackten Metalle“ werden und zeigt die gigantischen Metallkonstruktionen als dynamische Monumente einer modernen Epoche. Zu einer Zeit als die Technikverehrung quasi-religiöse Züge annahm, feierte die französische Presse das Buch enthusiastisch als fotografische Verkörperung des „esprit moderne“. Es ist wohl diese Veröffentlichung, die Walter Benjamin veranlasst, die Künstlerin Germaine Krull in seiner „Kleinen Geschichte der Fotografie“ (1931) in einem Atemzug mit den bedeutenden Fotografen August Sander und Karl Blossfeldt zu nennen – und damit in die Kunstgeschichte zumindest als Notiz zu verewigen. 

Ihr berühmtestes Werk ist ein absolut ikonisches Beispiel für diese radikal modernistische Fotografie. Sie nutzt Elemente der sowjetischen Schule; scharfe Winkel, Ansichten von oben, von unten, abstrahierend – eine Feier von Industrie, Geschwindigkeit und Dynamik, die aus einer Art futuristischer Tradition hervorgegangen sind.
Frances Morris, Direktorin Tate Modern, London
Germaine Krulls Fotoband »Métal«, 1928
Courtesy Museum Folkwang Essen/ARTOTHEK
Freiheitsliebend

Germaine Krull ist eine Frau mit vielen Leben, nennt sich selbst „chien-fou“ (frz. verrückter Hund) und ist damit die perfekte Künstlerin: stattliche sieben Mal wagt sie den kompletten Neubeginn, lebt in Europa, Afrika und Asien, kurzzeitig kämpft sie als Sozialistin und Anarchistin und wechselt das ein oder andere Mal das politische Lager. Engstirnige Konventionen, insbesondere der dualen Geschlechterordnung, sind ihr verhasst. Eine Germaine Krull macht ihre eigenen Regeln.

Germaine Krull, 1922 portraitiert von Hans Basler
Courtesy Museum Folkwang Essen/ARTOTHEK
Neues Sehen

Nach einer Photographie-Ausbildung in München, eröffnet sie erst hier – nach einem „Umweg“ als Konterrevolutionärin in russischer Haft – später im Berlin der wilden Zwanziger ein eigenes Atelier. Sie übt sich in Straßenfotografien, entwickelt ihre Aktfotografie weiter und arbeitet ihren sachlichen Stil heraus, der ihr bald – nach einem Abstecher nach Amsterdam und der Heirat mit dem Dokumentaristen Joris Ivens – in Paris zu Anerkennung verhelfen wird. Hier bestreitet sie ihren Lebensunterhalt mit Modeaufnahmen, die ihr ihre Freundin Sonia Delaunay vermittelt. Doch ähnlich wie Lee Miller ist Krull todunglücklich in diesem Genre. Germaine Krull zieht es, wie ihre Kolleginnen Marianne Breslauer, Gisèle Freund, Ilse Bing und Ellen Auerbach, auf die Straße. Hier findet sie in den Maschinen ihr geliebtes Motiv, fahndet nach ungewohnten Details, nutzt das Gegenlicht und inszeniert den „Liebling des Neuen Sehens“ – die Diagonale. Ihre fotografischen Technikimpressionen erwecken eine ungeahnte Begeisterung und in Paris wird Germaine Krull neben Man Ray und André Kertész als die Spitze der modernen Fotografie bejubelt und als Maschinenfotografin und »Eisenwalküre« (Eugène Merle) gefeiert. Multitalent Jean Cocteau ist von Krulls fotografischer Begabung merklich angetan und schreibt 1930, sie sei wie ein „Spiegel, der das Bild der Welt verwandelt.“ Germaine Krull avanciert zu einer gefragten Werbe- und Portraitfotografin und entwickelt eine ganze eigene Bildsprache. Mit ihren schrägen Perspektiven, der Ausschnitthaftigkeit prägt sie die Fotografie des Neuen Sehens, mit denen vor allem Bauhaus-Fotografen stilistische Strukturen aufbrachen. Peugeot, Citroën, das Pariser Elektrizitätswerk beauftragen sie. Wichtige internationale Ausstellungen folgen, wie die »Fotografie der Gegenwart« in Essen oder die Werkbund-Wanderausstellung »Film und Foto«, beide 1929. 

Germaine Krull, Portraitfotografie 1925-30
Courtesy Museum Folkwang Essen/ARTOTHEK
Multitalent

In den Pariser Jahren ist sie häufig für die »Vu« unterwegs, veröffentlicht Bildbände, experimentiert mit Mehrfachbelichtungen, kollagenartigen Ausschnitten. Sie arbeitet an Szenen der Pariser Unterwelt, an Landschaftsbildern, portraitiert André Malraux, Jean Cocteau, Sergei Eisenstein. Ihr Werk vereint anstößige Aktbilder, Mode-, Werbe- und Porträtfotografie, Sozialfotografie und avantgardistische Technikporträts. Alle Arbeiten bestimmt die ihr so eigene Art, die Dinge neu zu sehen. Es ist eine besondere Bildsprache, sie sich auch später wiederfindet, wenn Germaine Krull im Auftrag der Französischen Streitkräfte um General de Gaulle in ihren Reportagen die Schlacht ums Elsass dokumentiert. Als eine der ersten weiblichen Kriegsberichterstatter geht sie 1946 nach Indochina. Es folgt ein turbulentes Leben auf verschiedenen Kontinenten, nicht ausschließlich als Fotografin: in Bangkok leitet Krull fast zwanzig Jahre lang ein Hotel, in Nordindien lebt sie mit Anhängern des Dalai Lamas in einem Tempel. 1985 stirbt sie, fast vergessen, im hessischen Wetzlar. 

Germaine Krull, Kamerun 1943
Courtesy Museum Folkwang Essen/ARTOTHEK

Walter Benjamins Hinweis auf die avantgardistische Fotografin ließ das Sammlerpaar Ann und Jürgen Wilde aufhorchen, die in den 1970er Jahren mit detektivischer Sorgfalt das Werk Germaine Krulls aufspürten und so vor dem Vergessen bewahrten. Dank diesem privaten Engagement wurde die Wiederentdeckung der Fotografin eingeleitet. Heute befindet sich der umfangreiche Sammlungsbestand der Ann und Jürgen Wilde Stiftung in der Münchner Pinakothek der Moderne. Germaine Krulls künstlerischer Nachlass wird vom Essener Folkwang Museum betreut.

Die Weltenbummlerin Germaine Krull, Monta Carlo 1937
Courtesy Museum Folkwang Essen/ARTOTHEK