Florence Henri
1893 – 1982 / US-amerikanisch-französische Fotografin
Die Malerin mit der Kamera
Als Florence Henri ihre Leidenschaft für die Fotografie entdeckt, ist sie Mitte 30 und gerade Gasthörerin am Bauhaus in Dessau. Inspiriert von den fotografischen Arbeiten von László Moholy-Nagy, dessen Vorkurs sie besuchte, und ermutigt von seiner Frau, der Fotografin Lucia Moholy, widmet sich Florence Henri ganz diesem neuen Medium und gibt die Malerei vollends auf. Dabei ist sie eine ausgebildete Malerin, hat ab 1914 an der Berliner Kunstakademie studiert und verkehrt in modernistischen Kreisen, nimmt Unterricht bei dem Maler Johannes Walter-Kurau, lernt die Künstler Hans Arp und John Heartfield kennen und verkehrt mit Herwarth Walden, dem umtriebigen Förderer der deutschen Avantgarde. El Lissitzky und Kasimir Malewitsch inspirieren sie zum Konstruktivismus, dessen geometrisch-technisches Gestaltungsprinzip sie später in ihr fotografisches Werk überführen wird. Nach zwölf Jahren in Berlin, geht sie 1924 wieder nach Paris, wo sie an der »Académie Moderne« abstrakte Malerei studiert. In ihrer rund fünfzehnjährigen Entwicklung als Malerin setzt sie sich mit berühmten Vertreter:innen der Moderne auseinander, doch nicht zuletzt die Begegnung mit den Fotograf:innen des Bauhauses, zieht sie in den Bann der Fotografie.
Ein eigenes Studio in Paris
Während ihres Sommerkurses am Dessauer Bauhaus im Jahr 1927 wohnt sie im Meisterhaus des Ehepaars Moholy-Nagy und lernt von ihnen technische und visuelle Grundprinzipien des Mediums kennen. Zurück in Paris gelingt es ihr – trotz Autodidaktik – sich als professionelle, selbständige Fotografin mit eigenem Studio zu etablieren. Sie realisiert Werbefotografien und Portraits und entwickelt ein hochexperimentelles fotografisches Werk. Ihre Arbeiten sind weltweit in Ausstellungen zu sehen, so 1929 in Stuttgart auf der Internationalen Ausstellung des Deutschen Werkbundes „Film und Foto“. 1931 wird ihr Werk auf der „Foreign Advertising Photography“ in New York ausgezeichnet. Zahlreiche renommierte Kunstmagazine veröffentlichten ihre Arbeiten und bald gilt Henri als wichtigste Vertreterin der französischen Avantgarde. Ihr Atelier wird zum Treffpunkt der Pariser Modernisten, Maler:innen wie Sonia und Robert Delaunay, Piet Mondrian oder Fernand Léger sowie Fotograf:innen wie Man Ray, André Kertész und Germaine Krull kehren ein und aus. Produktive Jahre folgen, die den Höhepunkt ihres fotografischen Schaffens markieren.
Ein fotografischer Kosmos aus kühnen Kompositionen
In ihrem fotografischen Werk wendet sich Florence Henri Akten, Collagen, Architektur, Portraits sowie spielerischen Selbstportraits zu. Charakteristisch für ihr Œuvre sind ihre ganzen eigenen Stillleben und ihre Inszenierung von Gegenständen zu konstruktivistischen Kompositionen. In diesen kühnen Arrangements aus Kugeln, Schallplatten, Parfümflaschen oder Garnrollen experimentiert Florence Henri mit Räumen, Perspektiven und erzielt eine besondere Tiefenwirkung. Dabei äußert sich ihre Experimentierfreude weniger durch das Austesten von Foto-Optiken oder im Fotolabor erzielter Effekte. Vielmehr bannt sie die Realität mit einer bestechenden Nüchternheit, um sie mittels Spiegel und Prismen im gleichen Moment zu brechen, aufzufächern und quasi ihre Rückseite sichtbar zu machen. Der gespiegelte Raum durchdringt den realen Raum und versagt dem Betrachter die Orientierung. Damit überführt Henri wichtige Impulse der Malerei – von Kubismus bis Konstruktivismus – in die bis dahin vor allem dokumentarisch orientierte Fotografie und etabliert sich als Vertreterin der Schule des „Neuen Sehens“.
Die späte Wiederentdeckung
Der Zweite Weltkrieg und die Besatzung der Nazis bedeutet wie für so viele Pariser Künstler:innen auch für Florence Henri einen tiefen Einschnitt in ihr Schaffen. Die benötigten Fotomaterialien sind nur noch schwer aufzutreiben und ihre moderne Bildsprache ist ohnehin untersagt. Die Aufträge bleiben aus und Florence Henri widmet sich wieder verstärkt der Malerei. Lange Zeit wird es still um die moderne Künstlerin.
Bis in den 1970er Jahren das engagierte Galeristen-Ehepaar Ann und Jürgen Wilde auf das Werk der damals Achtzigjährigen aufmerksam wird, und mit der 1974 in Köln initiierten Ausstellung den entscheidenden Impuls für Florence Henris Wiederentdeckung setzen. Es folgen Ausstellungen in Deutschland, Italien, Nord-Amerika und Frankreich. Hochbetagt erlebt die Künstlerin die beginnende Renaissance ihres fotografischen Werkes, bis sie neunundachtzigjährig im Jahr 1982 in Frankreich stirbt. Noch im selben Jahr wird sie mit Ausstellungen in Paris und New York geehrt und 1990 schließlich im Francisco Museum of Modern Art gezeigt. Heute ist sie aus der Riege der avantgardistischen Fotograf:innen des „Neuen Sehens“ nicht mehr wegzudenken.