Charlotte Salomon

Charlotte Salomon
Collection Jewish Historical Museum, Amsterdam
1917 – 1943 / deutsche Malerin
„Ich habe das, was van Gogh in seinem Alter erreicht, nämlich jene unerhörte Leichtigkeit des Striches, schon jetzt erreicht.“
Charlotte Salomon

Auf der Flucht vor den Nazis, im französischen Exil an der Cote d’Azur realisiert eine junge Künstlerin eines der ungewöhnlichsten Werke der Kunstgeschichte. In 18 Monaten malt Charlotte Salomon über 1300 Gouachen, in denen sie biografische und fiktive Elemente zu ihrem überwältigen Werk »Leben? Oder Theater?« kompiliert. Es ist eine Arbeit von berührender Schönheit, die von dem unbedingten Lebenswillen der Künstlerin zeugt und alle Genres überschreitet. Ein Werk, das sich in Zwischenräumen bewegt, das Kunstformen und Stile aus den gewohnten Bezügen herausnimmt, sie verrückt und neu kompiliert.

Künstlerischer Aufbruch im Keim erstickt

Charlotte Salomon wird 1917 als Kind der großbürgerlichen jüdisch-assimilierten Familie Salomon in Berlin geboren. Ihr Vater ist Arzt und Erfinder der Mammografie. Ihre manisch-depressive Mutter bringt sich um als Charlotte kaum zehn Jahre alt ist. Sie ist ein einsames Kind, doch findet im Malen Zuflucht. Ihr gelingt die Aufnahme an der heutigen Universität der Künste – dies jedoch zu einer Zeit, als nur noch wenige jüdische Schülerinnen überhaupt zugelassen werden. Während der zwei Jahre, die sie an der Akademie ist, wird ihr klar, dass der dort propagierte, bereits gegen die Moderne gerichtete Malstil nie der ihre werden würde. Die junge Künstlerin verlässt die Akademie und schult sich eigenständig anhand von Kunstbüchern. 1938 verschärft sich im Zuge der Reichspogromnacht die ohnehin schwierige Situation für die Familie Salomon. Charlottes Vater wird ins KZ Sachsenhausen geschickt, doch es gelingt Charlottes Stiefmutter, ihn mit falschen Papieren zu befreien. Der Gang ins Exil ist unvermeidlich und während Charlotte zu den mittlerweile in Südfrankreich lebenden Großeltern geschickt wird, geht das Paar nach Amsterdam, doch der geplante Nachzug wird mit dem Kriegsbeginn unmöglich. 

Charlotte Salomon aus „Leben? Oder Theater?“, Blatt 4304
Collection Jewish Historical Museum, Amsterdam © Charlotte Salomon Foundation
Zeichnen als Überlebensstrategie

Erst als sich ihre Großmutter 1940 das Leben nimmt – sie springt ebenso aus dem Fenster wie einst Charlottes Mutter – erfährt die junge Frau von dem belastenden Familiengeheimnis und fällt in eine tiefe Krise. Um ihren Verstand nicht zu verlieren, entschließt sie sich, ihr Leben aufzuzeichnen und stürzt sich mit einer brachialen Wucht an die künstlerische Bearbeitung ihrer Biographie. Es entsteht ein atemberaubendes Werk, das als eindringliches Dokument eines von familiären Tragödien und dem Antisemitismus der NS-Herrschaft überschattenden Lebens Zeugnis ablegt. Es ist ein Werk, das auch formal einzigartig ist, da es stilsicher filmische, comicartige und klassisch expressionistische Mittel kombiniert. Die Stationen aus dem Leben der Familie Salomon setzt Charlotte geschickt mit künstlerischen Mitteln der Filmtechnik in Szene und nutzt Rückblenden, Montage, Perspektivwechsel, Nahaufnahmen und Totalen. Zugleich macht Charlotte musikalische Vorgaben und verdichtet ihre Bilder zu wagemutigen Arrangements. In die Gouachen hineingearbeitet sind Textelemente, die an heutige Graphic Novels erinnern. Ohne kontinuierlich gefördert oder beraten worden zu sein, bedient sich die junge Malerin selbstbewusst der Tradition der Moderne und schafft Tableaus eines großen Gedächtniswerks voller glühender Intensität und Sehnsucht.

Charlotte Salomon aus „Leben? Oder Theater?“, Blatt 4835
Collection Jewish Historical Museum, Amsterdam © Charlotte Salomon Foundation
„Der Krieg tobte weiter, und ich saß da am Meer und sah tief hinein in die Herzen der Menschen. Ich war meine Mutter, meine Großmutter, ja, alle Personen, alle Personen, die vorkommen in meinem Stück, war ich selbst.“
»Mein ganzes Leben«

1943 kommt Charlotte mit dem Exilösterreicher Alexander Nagler zusammen und weil sie schwanger ist, heiraten die beiden. Kurz darauf besetzen die Nazis die französische Mittelmeerküste und das junge Paar wird nach Auschwitz deportiert. Charlotte, mittlerweile im fünften Monat schwanger, wird unmittelbar bei ihrer Ankunft am 10. Oktober 1943 ermordet. 

 

Noch vor ihrer Deportation hatte Charlotte ihr biografisches Werk „Leben? Oder Theater?“ im September 1943 in Packpapier eingewickelt und es einem Vertrauten mit den Worten übergeben: »Heben Sie das gut auf, es ist mein ganzes Leben.«

Charlotte Salomon im französischen Exil in Villefranche-sur-Mer bei Nizza, 1939
Collection Jewish Historical Museum, Amsterdam
„Ihr tragisches Ende überlagert natürlich immer wieder die Auseinandersetzung mit ihrer künstlerischen Arbeit. ich wünsche mir für Charlotte Salomon, dass sie nicht als Frau, dass sie nicht als Jüdin und schon gar nicht, dass sie als Opfer betrachtet wird, sondern dass sie als Künstlerin betrachtet wird.“
Sabine Schulze, Kunsthistorikerin
Schicksal versus Kunst

Charlottes künstlerisches Vermächtnis wird erstmals 1961 in Amsterdam ausgestellt, anschließend durchaus auch international so in Deutschland oder Israel gezeigt, doch vorrangig im Kontext des Holocausts anstatt in Kunstmuseen. Kontinuierlich widmen sich Filme, Bücher, Oper- und Theaterarbeiten dem schicksalhaften Leben der jüdischen Künstlerin. Doch die Wahrnehmung Charlotte Salomons als Künstlerin der Moderne, ihre Einordnung in den kunsthistorischen Kontext, gleichberechtigt mit ihren Zeitgenossen, lässt auf sich warten. 2012 wird ihr Werk auf der documenta in Kassel ausgestellt. Trotz der beginnenden Auseinandersetzung scheint die Scheu vor dem Schicksal der Künstlerin ihrer Aufnahme in den europäischen Kunstkanon im Wege zu stehen, als »konkurriere« Charlotte Salomons Leben und ihr Tod mit ihrer Kunst.