Natalja S. Gontscharowa

1881 – 1962 / russische Malerin, Kostüm- und Bühnenbildnerin
„Der Westen hat mir eines gezeigt: Alles, was er hat, kommt aus dem Osten.“
Natalja S. Gontscharowa

Natalja Gontscharowas erste Einzelausstellung 1913 in Moskau schlägt ein wie ein Komet. Die 32-jährige präsentiert eine beeindruckende Anzahl von 761 Werken und wird von der Presse als Shootingstar der Russischen Avantgarde gefeiert. 

Natalja Gontscharowa »Komposition«, 1913-14
© VG BILDKUNST 2021/ Courtesy Centre Pompidou, Foto: KOBERSTEIN FILM
Eine Klasse für sich

Die Experimentierfreude der selbstbewussten und umtriebigen Russin kennt keine Schranken. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dem Künstler Michail Larionow, entwickelt sie, begeistert von den frisch entdeckten Röntgenstrahlen, den Rayonismus, ein Stil aus Kubismus und Futurismus. Gontscharowa wildert in der Volkskunde, der christlichen Ikonografie wie in der Technikgeschichte. Sie malt mal traditionell, dann wieder kubistisch, vor allem aber so, wie es ihr gerade gefällt. Italienischen Futurismus mixt sie mit russischen Sagengestalten, Moskauer Christusfiguren mit Stilmitteln der deutschen Brücke-Künstler, östliche Motive mit primitivistischer Ästhetik – Gontscharowas Oeuvre ist eine Klasse für sich. 

Natalja Gontscharowa »Ringer«, 1909-10
© VG BILDKUNST 2021/ Courtesy Centre Pompidou, Foto: KOBERSTEIN FILM

Als Künstlerin tritt sie selbstbewusst auf, äußert sich in Artikeln und Manifesten, ist Mitbegründerin neuer Ausstellungsgruppen wie »Karo-Bube«, »Eselsschwanz« oder »Zielscheibe«. In skandalträchtigen, öffentlichen Auftritten posiert sie mit bunten Kostümen und kubistischer Gesichtsbemalung als Zeichen einer neuen Verbindung von Kunst und Leben. Für Skandal sorgt bereits 1910 ihre Aktdarstellung »Die Gottheit der Fruchtbarkeit« – eine kubistische Nackte, die von der Polizei beschlagnahmt wurde. 

Natalja Gontscharowa »Radfahrer«, 1913
© bpk / Roman Beniaminson

Nicht zuletzt ihre mehrfache Teilnahme an den STURM-Ausstellungen in Berlin und Helsinki machen sie international bekannt. Die 1914 geplante Doppelausstellung des russischen Paares im STURM wird durch Deutschlands Kriegserklärung an Russland torpediert. Das Künstlerpaar emigriert nach Paris, wo Gontscharowa ihre Vielseitigkeit als Modedesignerin und Szenografin im Theater beweist und Entwürfe für das prestigeträchtige »Ballets Russes« von Sergei Diaghilew anfertigt. 

Natalja Gontscharowa, Kostümdesign »Night on the Bare Mountain«, 1924
Courtesy Library of Congress, Music Division.

Gontscharowas Leidenschaft aber bleibt die Malerei. Bis an ihr Lebensende bewahrt sie sich ihre Modernität, die sie in ein höchst vielseitiges künstlerisches Spektrum verwandelt. Doch ihre letzten Lebensjahre sind von Armut und Krankheit geprägt. 1962 verstirbt sie in Paris. Trotz ihrer großen Strahlkraft zu Lebzeiten, sind ihre Werke Jahrzehntelang vergessen und werden Opfer der Weltpolitik.

Während die in Russland verbliebenen, frühen Werke der während und nach der Stalinzeit verfemten Künstlerin in den Depots verstauben, bleibt ihr künstlerischer Nachlass in ihrem Pariser Atelier über Jahrzehnte unangetastet. Gontscharowa selbst hatte ihren gesamten Nachlass der Moskauer Tretjakow-Galerie vermacht, jedoch erst 1989 wird das Testament vollzogen. Doch die Moskauer Galerie missachtet das Erbe seiner modernen Tochter und Gontscharowa bleibt für weitere Jahre unbeachtet. 

Natalja Gontscharowa »Dame mit Hut«, 1916-20
© VG BILDKUNST 2021/ Courtesy Centre Pompidou, Foto: KOBERSTEIN FILM

Das ändert sich schlagartig, als 2007 im Londoner Auktionshaus Christie’s eines ihrer Gemälde mit dem Rekordpreis von fast 10 Millionen Dollar versteigert wird. Seitdem zählen ihre Bilder mit zu den höchst gehandelten Kunstwerken des 20. Jahrhunderts. 2013 schließlich zeigt die Tretjakow-Galerie erstmals eine große Retrospektive der Künstlerin und der Weg für die Wiederentdeckung ist frei: 2019 feiert die TATE die Pionierin der russischen Avantgarde in einer großen Ausstellung, Schauen in Florenz und Helsinki folgen.

Natalja Gontscharowa & Michail Larionow, Paris 1956
© ullstein bild – Imagno